„Sie sind spät“, sagt ein Mann in gebrochenem Englisch, als wir das Zimmer betreten. Ich zeige auf meine Armbanduhr.
„Nur zehn Minuten“, sage ich zu unserem Dolmetscher Mohamed.
Dieser übersetzt, und der Mann antwortet. Dann wieder Mohamed, diesmal zu mir:
„Er sagt, es ist egal. Wir sind trotzdem spät.“
Der Mann ist der Bürgermeister von Ishaki und hält mir sein Handgelenk mit der goldfarbenen Armbanduhr hin. „Spät, spät“, sagt er. „Leutnant, Sie sind spät.“
Ich lege meine rechte Hand auf die Brust, erwidere: „Inschallah“, und will mich gerade setzen, als plötzlich lautes Lachen den Raum erfüllt. Der Bürgermeister und die acht anderen Männer kommen auf mich zu und küssen mein Gesicht. Wie so oft habe ich keine Ahnung, was hier gerade vor sich geht. Vielleicht war es ein Test oder ein Witz. Inschallah sagen auch die Iraker, wenn sie sich verspätet haben, was im Grunde immer der Fall ist. Aber es liegt auch etwas Neues in der Luft. Einige der Männer zeigen miteinander tuschelnd auf mich. Ich setze mich mit dem Rücken zum Fenster, spüre die warmen Strahlen der Vormittagssonne durch das Hemd. Während des folgenden Gespräches mache ich mir Notizen. Dann erwähnt Mohamed eine Kläranlage, ohne den Satz zu beenden.
Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich schaue auf. Die Männer sind fort. Friedlich zirkuliert der Staub im Sonnenlicht. Als ein Windstoß den Staub herumwirbelt, bemerke ich, dass das Glas im Fenster fehlt. Ich probiere aufzustehen, aber ein starker Schwindel drückt mich nach unten, wo Glasscherben in meine Hände beißen. Laute Stimmen im Flur. Ich blinzle. Der junge Soldat, der von allen Cat genannt wird, beugt sich über mich, mit weit aufgerissenen Augen, als wäre er auf Drogen.
„Was ist passiert?“, frage ich. „Wo ist Mohamed?“
Cat dreht den Kopf, schreit etwas. Ein Sergeant kommt ins Zimmer gelaufen, und die beiden helfen mir aufzustehen. Als sie mich loslassen, zwingt mich das Schwindelgefühl, ein paar Schritte zur Seite zu gehen.
„Sir“, sagt der Sergeant. „Es gab eine Explosion.“
„Eine verdammte Bombe“, ergänzt Cat.
„Hier drinnen gibt es außer Ihnen keine Verletzten“, der Sergeant sieht mich an, „aber wie’s draußen aussieht, wissen wir nicht. Wir sind noch nicht rausgegangen, weil wir …“ Er stockt. „Wir haben gedacht, dass Sie …“
Es fällt mir schwer, das Gleichgewicht zu halten, als wir durch den Flur gehen. An der Tür werfe ich vorsichtig einen Blick in den Hof, wo ich irakische Polizisten auf Wache sehen sollte, aber der Hof ist leer. Der Rest der Patrouille steht mit zwei Bradleys und zwei Humvees jenseits der Mauern, um die Zufahrt zu überwachen.
„Alle bereit?“
„Ja, Sir“, antwortet der Sergeant.
Ich gucke noch einmal in den Hof.
„Kommen Sie, wir gehen“, sage ich.
Die schussbereiten Gewehre im Anschlag stürmen wir zusammen mit zwei weiteren Soldaten aus dem Gebäude. Als wir um die Ecke rennen, sehe ich zwei Polizisten neben der Hofmauer stehen. Wir sprinten die letzten paar Meter zu ihnen, doch kurz vor der Mauer stürze ich hin. So schnell wie möglich krieche ich weiter und knie mich neben einen der Polizisten. Er hat sein Gewehr nicht dabei und sieht irgendwie besoffen aus. Mir seine Hände vor das Gesicht haltend macht er Bewegungen, als lenkte er ein Auto. Der andere zeigt in die Richtung, wo unsere Fahrzeuge sind, und sagt:
„Boom.“
Ich versuche, mich auf die Polizisten zu konzentrieren, aber mein Blick bleibt an einem hohen Freileitungsmast über ihren Schultern hängen. Auf halber Höhe abgeknickt, sieht er aus wie ein riesiger Roboter, der eine elektrische Leitung hochhebt. Ich recke mich, um am Mauervorsprung vorbeischauen zu können. Die Leitungen hängen so tief, dass sie fast den C-65 berühren, dessen tonnenschwere Motorhaube geöffnet ist.
Ich fühle mich, als wäre ich gerade nach einer durchzechten Nacht aufgewacht. Am Ausstieg der Fahrerluke sehe ich Conner stehen, kann die Situation aber nicht erfassen. Warum hat er die Motorhaube des C-65 geöffnet? Will er an Ort und Stelle Wartungsarbeiten durchführen? Ist er vielleicht gegen den Mast gefahren? Warum gibt der betrunkene Polizist immer wieder vor, ein Auto zu lenken? Conner ist etwa dreißig Meter entfernt. Erst jetzt wird mir klar, dass er nicht aussteigen kann. Er kann sich nur vorbeugen. Ich kneife die Augen zusammen, weil mich das grelle Sonnenlicht blendet. Blut und Spucke tropfen von Conners schwarzem Gesicht auf das Deck des Bradley. Er sieht mich und hebt seinen rechten Arm.
„Hilfe!“
Ein gellender Schrei. Eine entsetzliche Mischung aus Schmerz und wilder Angst. Wie von einem Hund, dessen Hinterbeine überrollt wurden, und der hilflos auf der Straße bellt. Conners Schreie schneiden mir in den Kopf, übertönen den Tinnitus. Als ich mich weiter vorbeuge, packt mich jemand am Arm.
„Bleiben Sie zurück!“
„Wo sind die anderen?“, rufe ich. „Sind sie alle gefallen? Warum bewegen sie sich nicht?“
Als ich mich umdrehe, erblicke ich lauter verängstigte Gesichter. Ich bin ihr Offizier, sie hoffen auf meine Befehle.
„Es ist ein Hinterhalt“, sagt eine Stimme. „Die warten nur auf uns.“
Meine Verwirrung wird von Angst verdrängt, denn endlich begreife ich, was hier vor sich geht. Sobald wir die Sicherheit der Mauer verlassen, werden wir von der Stadt aus niedergeschossen. Diese Gewissheit löst eine lähmende Furcht aus. Mit aller Kraft stemme ich mich dagegen, strenge mich an, logisch zu denken, um einen Ausweg zu finde.
Wie ein markerschütternder Schrei. Dann kurze, hohe, brummende Schreie, wie sie nur ein sterbendes Tier produzieren kann. Conner hat seinen Arm immer noch auf mich gerichtet, als ich im Augenwinkel einen Schatten bemerke, der an mir vorbei ins offene Feld rennt. Es ist Cat.
„Fuck this shit!“, ruft er.
In diesem Augenblick bewegen sich meine Beine ohne mein Zutun. Ich folge Cat, während ich dem Sergeanten zubrülle: „Los, sehen Sie nach den Humvee-MGs, und bereiten Sie sich auf weitere Angriffe vor.“ Auf einmal ist jede Angst weg. Weggedrückt von Cats Courage. Doch mir ist immer noch so schwindelig, dass ich kaum geradeaus laufen kann. Wo bleibt die Schießerei? All meine Kraft steckt in meinen Beinen, treibt mich vorwärts. Die heiße Wüstenluft strömt durch meine Lungen, und mein Körper kribbelt so lebendig, als wüsste er, dass ich in ein paar Sekunden tot sein werde. Jeden Moment werden Cat und ich von einer Kugel getroffen. Gleich sterbe ich. Also einfach weiterlaufen, bis die Kugel ihr Ziel findet.